„Es erfordert extrem viel Mut, die Streiks im Handel weiterzuführen!“
Seit acht Monaten dauert die Tarifrunde im Handel. Unser Bundessprecher Nils Böhlke, der bei ver.di in NRW als Gewerkschaftssekretär für den Handel zuständig ist, erklärt, worum es geht.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Die Tarifrunde im Handel dauert nun schon acht Monate. Was fordern die Kolleginnen und Kollegen?
Nils Böhlke: Im Grunde fordern die Kolleginnen und Kollegen eine Selbstverständlichkeit: den Ausgleich für die Reallohnverluste der letzten Jahre. Die Beschäftigten im Einzelhandel fordern eine Erhöhung der Entgelte um 2,50 Euro pro Stunde sowie die Erhöhung der Azubi-Vergütungen um 250 Euro. Zudem fordern sie angesichts der drohenden Welle an Altersarmut in der Branche ein rentenfestes Mindeststundenentgelt von 13,50 Euro. Im Groß- und Außenhandel fordern die Kolleginnen und Kollegen eine Erhöhung der Entgelte um 13 Prozent bei einem Mindestbetrag von 400 Euro sowie ebenfalls eine Erhöhung der Azubi-Vergütung um 250 Euro.
Welche Ketten bilden die Schwerpunkte der Auseinandersetzung?
Streikschwerpunkte sind die großen Player im Einzelhandel und im Groß- und Außenhandel. Das sind die größten Handelskonzerne, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe mit Kaufland und Lidl. In NRW ist es uns erstmals gelungen, alle Lagerstandorte von Edeka und Rewe zu bestreiken. Das übt richtig Druck aus, weil dies die selbständigen Kaufleute der beiden Konzerne trifft, die bislang durch Streiks nur sehr schwer zu treffen waren. Wir bekommen viele Fotos von Aushängen und leeren Regalen zugesandt. Darüber hinaus gibt es aber auch im Textileinzelhandel und bei IKEA Streikschwerpunkte.
Wie ist die Stimmung unter den Streikenden?
Die Streikenden sind stinksauer über das Verhalten der Arbeitgeber. Sie sind dringend auf eine sofortige Erhöhung ihrer Entgelte angewiesen. Immer wieder berichten uns Kolleginnen und Kollegen, dass sie nicht mehr wissen, wie sie am Ende des Monats ihre Wochendeinkäufe bezahlen sollen oder aufgrund der Spritpreise sich eigentlich gar nicht mehr leisten können, zur Arbeit zu fahren. Trotzdem verweigern die Arbeitgeber Angebote, die die Preissteigerung der letzten Jahre kompensieren.
Mit acht Monaten ist das eine der längsten Tarifrunde in der Geschichte von ver.di. Warum dauert es so lange, zu einem Abschluss zu kommen?
Die Preissteigerung der letzten Jahre führt dazu, dass die Beschäftigten auf eine starke Erhöhung der Entgelte angewiesen sind. Dadurch sind sie noch einmal wesentlich kampfbereiter als das in manchen vorherigen Tarifrunden der Fall war. Die sogenannte Inflationsausgleichsprämie der Bundesregierung erschwert die Situation zusätzlich, weil sie eben genau das nicht ist, sondern eine bewusste Förderung von Einmalzahlungen, die die Preissteigerung eben nicht ausgleichen, sondern das Problem nur verschieben und damit letztlich verstärken. Gleichzeitig weigern sich die Arbeitgeber, die Sorgen der Beschäftigten wirklich ernst zu nehmen. Im Einzelhandel haben die Arbeitgeber vor ein paar Wochen sogar alle weiteren Verhandlungstermine abgesagt und mussten erst durch den Druck der Streikenden wieder dazu gezwungen werden, an den Verhandlungstisch zurückzukommen. Dass die Beschäftigten trotz dieser Blockadehaltung weiter so mutig und ausdauernd sind, sollte uns allen allerhöchsten Respekt einflößen.
Der Handel befindet sich jetzt mitten im Weihnachtsgeschäft. Wird das die Verhandlungsmacht der Kolleginnen und Kollegen stärken?
Das Weihnachtsgeschäft ist die wichtigste Zeit im Handel. Die Arbeitgeber arbeiten derzeit mit allen Tricks, um Beschäftigte vom Streiken abzuhalten. Sie arbeiten mit Streikbruchprämien, mit direktem Druck und teilweise auch mit massiven Lügen. Es ist offensichtlich, welche Angst die Konzerne vor den Streikenden haben. Gerade jetzt erfordert es extrem viel Mut, die Streiks weiterzuführen. Da uns das gelingt, bin ich optimistisch, dass wir bald einen Abschluss erreichen können.
Im Unterschied zur Tarifrunde der Länder, wo die Arbeitgeberseite aus gewählten Politikerinnen und Politikern besteht, ist die Tarifrunde im Handel eine Auseinandersetzung mit privaten Arbeitgebern. Aus gutem Grund gibt es in der Bundesrepublik das Prinzip der Tarifautonomie. Siehst du die Bundesregierung oder die Landesregierungen trotzdem in der Verantwortung, die Arbeitskampfbedingungen der Beschäftigten zu verbessern und wenn ja, wie?
Bis vor etwas mehr als 20 Jahren war es im Handel üblich, dass die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt wurden und damit einem Lohndumpingwettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten einen Riegel vorgeschoben wurde. Seit die Arbeitgeber davon Abstand genommen haben, die sogenannte Algemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di zu beantragen, hat die Tarifbindung in der Branche kontinuierlich abgenommen. Heute arbeitet weniger als ein Drittel der Beschäftigten noch nach Tarifvertrag. Das ist ein unhaltbarer Zustand, der in der Zukunft dazu führen wird, dass uns eine ungeheure Welle von Altersarmut erfassen wird. Das wird den Sozialstaat insgesamt infrage stellen. Wer dem zuvorkommen will, muss heute die Regeln für die AVE ändern und bei einem übergeordenten Interesse dafür sorgen, dass die Politik auch ohne die Zustimmung der Arbeitgeber Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären kann. Verschiedene Arbeitsminister der SPD haben in der Vergangenheit zugesagt, dass sie das Einstimmigkeitsprinzip in den Tarifausschüssen aufheben wollen, passiert ist leider nichts. Die insbesondere auch durch die Arbeit der LINKEN im EU-Parlament vorangetriebene Mindestlohnrichtlinie schreibt nun Maßnahmen bei einer Tarifbindung von unter 80 Prozent vor. Diese muss die Bundesregierung endlich umsetzen.
Wie könnte DIE LINKE sinnvoll Solidarität organisieren?
DIE LINKE muss noch viel stärker auf die Situation der Beschäftigten in der Branche hinweisen und ihre Situation öffentlich machen. Während der Corona-Zeit haben viele für die Beschäftigten geklatscht, aber gerade jetzt brauchen die Kolleginnen und Kollegen jede Unterstützung und fühlen sich vielfach alleingelassen. Je mehr Aufmerksamkeit sie bekommen, desto stärker fühlen sich die Streikenden in ihrer Auseinandersetzung mit ihren Arbeitgebern.
Vielen Dank.
Das Gespräch führte Ulrike Eifler, Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft