Liberalisierung des Arbeitsmarktes in der Ukraine

BAG Betrieb und Gewerkschaft U. Eifler

Der Kampf für den Frieden ist seit vielen Jahrzehnten überall auf der Welt Praxis der Gewerkschaftsbewegung. Aus gutem Grund – Krieg bedeutet nicht nur Zerstörung und Tod, sondern schwächt die Kampfkraft der Beschäftigten. Gleichzeitig wächst durch die Kriegsproduktion der ökonomische Druck. Haben Arbeitgeber schon in Friedenszeiten ein starkes Interesse daran, die Arbeitskosten zu senken, ist dieses unter den Bedingungen eines Krieges noch ausgeprägter. Schon im März hatten sich die Initiativen der Regierung Selenskyj zur Einschränkung des Arbeitsrechtes angedeutet. Jetzt hat der Gesetzentwurf 5371 das ukrainische Parlament passiert. Er sieht eine weitreichende Liberalisierung der Arbeitsgesetzgebung vor und verschiebt das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit erheblich zuungunsten der Beschäftigten.

Null-Stunden-Verträge

Mit dem Hinweis, die „extreme Überregulierung“ widerspreche der Selbstregulierung des Marktes, hatten die Abgeordneten der Regierungspartei Diener des Volkes für die Legalisierung von Null-Stunden-Verträgen gestimmt. Gleichzeitig fallen künftig bis zu 70 Prozent der Beschäftigten aus dem Schutz des nationalen Arbeitsrechtes. „Das sind Gesetzesentwürfe, auf die die Wirtschaft wartet, Gesetzesentwürfe, die die Interessen aller Unternehmer schützen“, hatte der Abgeordnete Danylo Hetmantsev geschrieben. Nun können Arbeitgeber, die sich für Null-Stunden-Verträge mit ihren Beschäftigten entscheiden, diese nach Bedarf und auf Abruf einsetzen. Sie müssen ihnen lediglich eine monatliche Mindestarbeitszeit von 32 Stunden garantieren und dürfen nicht mehr als zehn Prozent der Beschäftigten im Unternehmen zu diesen Bedingungen einstellen.

Die Arbeitsrechtsreform erlaubt es Arbeitgebern zudem, Tarifverträge einseitig aufzulösen. Darüber hinaus sollen Kündigungen wegen Krankheit möglich sein. Des Weiteren kann die Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden erhöht und Urlaubstage gestrichen werden. Gleichzeitig wurde die Mitbestimmung eingeschränkt. Im März hatte das Parlament zudem die Beschlagnahmung von Gewerkschaftsimmobilien beschlossen, was als Versuch interpretiert werden muss, die Gewerkschaften zu disziplinieren.

Wirtschaftskrise

Der Krieg hat die Ukraine in eine tiefe Rezession gestürzt. Über sechs Millionen Menschen haben das Land verlassen, weitere fünf Millionen sind als Binnenmigranten innerhalb der ukrainischen Grenze unterwegs. Die Hälfte aller Handelsunternehmen des Landes stellten zudem mit Kriegsbeginn ihre Arbeit ein. Traditionelle Transport- und Logistikketten wurden unterbrochen. Export- und Importströme brachen zusammen, Investitionen versiegten. Die Inflation liegt mittlerweile bei weit über 20 Prozent und die Wachstumsprognose der Weltbank geht von einem möglichen Schrumpfen der ukrainischen Volkswirtschaft um 45 Prozent aus. Nachdem nun also bereits im Mai der Rat der EU die Liberalisierung des Handels sowie weitere Handelszugeständnisse in Bezug auf ukrainische Waren veranlasst hatte, liberalisierte die neoliberal ausgerichtete Regierung unter Wolodymyr Selenskyj nun zur Steuerung der Wettbewerbsfähigkeit das Arbeitsrecht.

Gelegenheitsfenster

Doch die schlechte ökonomische Lage war nicht der einzige Antreiber für die Reformen. Schon vor dem Krieg in den Jahren 2020/2021 hatte die Regierung Selenskyj versucht, drastische Änderungen in der Arbeitsgesetzgebung durchzusetzen und das Arbeitsrecht zu deregulieren, war aber an den Protesten der Gewerkschaften gescheitert. Das Gesetz sollte die Attraktivität der Ukraine für ausländische Investoren erhöhen. Jetzt nutzte die Regierung die durch den Krieg eingeschränkte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, um den Schutz von Arbeitnehmerrechten dauerhaft abzubauen.

Die Kritik der europäischen Gewerkschaften an Selenskyj, der 2019 an die Regierung gelangte, und dessen Versuchen, die Arbeitswelt zu liberalisieren, ist daher groß. Nicht nur grundlegende soziale Rechte, auch die Praxis des sozialen Dialogs werden von der Regierung mit Füßen getreten. Die Gesetze sind bis Kriegsende befristet, aber die Sorgen der Gewerkschaften, dass eine derart weitreichende Liberalisierung nicht wieder zurückgedreht werden kann, sind berechtigt. Der Abgeordnete Mykhailo Volynets von der Batkivshchyna-Partei teilt die Sorge, dass die Reform keine befristete Kriegsmaßnahme sein wird: „Es ist klar, dass niemand in der Lage sein wird, diese Situation später rückgängig zu machen. Das Arbeitsgesetzbuch wird nicht mehr gelten, Tarifverträge werden abgeschafft und auch die heute bestehenden Mechanismen des Arbeitnehmerschutzes werden nicht funktionieren. Dies ist ein dreister Verstoß gegen internationale Normen und Standards im Bereich der Arbeit.“

Gespaltene Gewerkschaftsbewegung

Doch die Regierung Selenskyj ist nicht der einzige Gegner der ukrainischen Lohnabhängigen. In den prorussischen Separatistengebieten im Dombass tun sich die russischen Truppen ebenfalls als Gegner hervor. Als die Unabhängige Gewerkschaft der Grubenarbeiter der Ukraine (UPUG) 2016 in der Zeche Tscheljuskinzew in Donezk vier Tage in den Streik trat, landeten die Streikenden in den Foltergefängnissen.

Wie in vielen Staaten des ehemaligen Ostblocks ist die Gewerkschaftsbewegung auch in der Ukraine seit dem Niedergang der Sowjetunion politisch und organisationspolitisch tief gespalten Den alten Berufsverbänden aus der Zeit der Sowjetunion stehen unabhängige neugegründete Gewerkschaften scheinbar unversöhnlich gegenüber. Während sich die einen in der Föderation der Gewerkschaften der Ukraine (FPU) zusammenschließen, organisieren sich letztere in der Konföderation der freien Gewerkschaften der Ukraine (KVPU). Insbesondere für die FPU waren die Mitgliederverluste in den letzten Jahren dramatisch – von den 17,7 Millionen Mitgliedern aus Sowjetzeiten sollen nur noch 4,8 Millionen übrig sein. Politisch sympathisieren sie mit der prorussischen Oppositionsplattform für das Leben. Die KVPU dagegen mit weniger als 170.000 Mitgliedern steht dem Block Julia Timoschenko nahe.

Internationale Solidarität

Die Geschichte internationaler Klassensolidarität ist lang. Als 1984 die britischen Bergarbeiter ein Jahr lang erbittert gegen die Grubenschließungen kämpften, organisierte in der Bundesrepublik die Vorgängergewerkschaft der heutigen IG BCE Ferienfreizeiten für britische Bergarbeiterkinder. Und in Jugoslawien spendeten die Bergarbeiter jeweils einen Tag ihres Monatslohns an die streikenden Kollegen. Internationale Solidarität beginnt damit, sich im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit klar und selbstbewusst zu positionieren.

Der Blick auf die Ukraine zeigt: In Kriegszeiten hat dieser Konflikt zwischen Kapital und Arbeit eine klare klassenpolitische Schieflage. Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stehen wir an der Seite der Kolleginnen und Kollegen, nicht aber an der Seite einer Regierung, die ihre Arbeits- und Lebensbedingungen angreift. Und wenn die Bundesregierung immer weiter Waffenlieferungen beschließt, die den Krieg, die Zerstörung und das Sterben verlängern und die Kampfkraft der Beschäftigten demobilisieren, sollten wir fragen, wem genau in der Ukraine diese Politik am Ende nutzt. Gleichzeitig bedeutet internationale Solidarität aber auch, die eigenen Arbeitskämpfe zu gewinnen. Und vielleicht ist das Mindeste, was Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter von Deutschland aus tun können, den Druck auf Scholz, Habeck und Baerbock zu erhöhen, damit diese die Liberalisierung der Arbeitsgesetze in der Ukraine öffentlich hörbar verurteilen – nicht zuletzt, weil sie den Werten der Europäischen Union so diametral zuwiderläuft.

Ulrike Eifler

Stellvertretende Landessprecherin der Partei DIE LINKE in NRW und Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft

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